Das BAG in Erklärungsnot: Rabattlistenskandal geht weiter
Camion Pro hatte am 14. April 2021 in einer Pressekonferenz enthüllt, dass LKW-Fahrer aus Osteuropa beim Bundesamt für Güterverkehr (BAG) offenbar Rabatte auf Bußgelder erhalten. Diese Erkenntnis löste Fassungslosigkeit und Kopfschütteln in der Branche, bei Verbänden und den meisten Medien aus. Camion Pro ist den offenen Fragen weiter nachgegangen und nimmt zu den zwischenzeitlichen Einlassungen des BAG Stellung.
Nach über zwei Monaten hat sich die Wut bei Fahrern und Unternehmern kaum gelegt. Diverse Medien haben zwar versucht, aufzuklären, was genau das Bundesamt für Güterverkehr mit dessen sogenannten Staatenabschlagslisten bezweckt, Interviews geführt und zum Thema berichtet. Die Verlautbarungen des BAG zu den Vorwürfen haben aber bisher wenig zu Aufklärung des Sachverhalts beigetragen. Aus Sicht von Camion-Pro-Vorstand Andreas Mossyrsch fährt das Bundesamt bewusst eine „Desinformationsstrategie“, sodass viele Fragen nach wie vor ungeklärt bleiben. Eine Frist, um die Rechtslagen und genaue Umsetzung der „Rabattliste“ offenzulegen, hat das Bundesamt verstreichen lassen. Die Camion-Pro-Anwälte haben sich inzwischen an die „Fersen“ der Bundesbehörde geheftet, aber auch hier setzt das BAG sein Verwirrspiel um die vermutlich rechtswidrigen Praktiken fort und spielt offenbar auf Zeit.
Camion Pro liefert im Folgenden eine Zusammenfassung der Ereignisse der letzten Wochen, ordnet die Fakten und Vermutungen ein und erklärt, wie es aus der Sicht des Branchenverbandes weitergeht.
BAG schwer unter Druck: Politiker, Medien, Verbände, Bundestag und Rechtsanwälte wollen es genauer wissen
In Folge der Camion-Pro-Pressekonferenz war ein erhebliches Medieninteresse zu verzeichnen. Über 50 Zeitungen und Zeitschriften griffen das Thema auf –darunter fast alle Fachzeitungen aus der Logistik, aber auch Titel wie DIE ZEIT, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG und DIE WELT berichteten im Anschluss darüber. Im Bundestag gab es auf Betreiben der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen eine Kleine Anfrage.
Camion Pro setz BAG eine Frist zu Offenlegung der Details und droht mit Rechtsweg
Nach Einschätzung verschiedener Rechtsanwälte sind die Bußgeldrabattlisten des BAG in der gegenwärtigen Form rechtlich nicht haltbar. Der Berufsverband Camion Pro e.V. setzte dem Bundesamt für Güterverkehr eine Frist bis zum 1. Juni zur Stellungnahme, und drohte rechtliche Schritte an. Das BAG hat die Frist verstreichen lassen, ohne eine inhaltlich zufriedenstellende Antwort zu geben. Daraufhin hat Camion Pro die renommierte Anwaltskanzlei SGP Schneider Geiwitz, die auf Verwaltungsrecht und EU-Recht spezialisiert ist, eingeschaltet.
Um sich zunächst ein genaues Bild zu machen, hat der Anwalt Dr. Volker Soyez, der den Verband auch im Rechtsstreit um kartellrechtliche Schadensersatzansprüche gegen die europäischen LKW-Hersteller vertritt, schon Ende Mai das BAG angeschrieben. Ziel ist es dabei, auf Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes umfassende Erkenntnisse zu den Hintergründen und der Handhabung der Staatenabschlagsliste zu erhalten, was eine abschließende Einschätzung der Rechtmäßigkeit dieser Liste erlauben wird.
Will das BAG auf Zeit spielen?
Die erste Reaktion des BAG schürt den Verdacht, dass das BAG etwas zu verbergen hat. Anstatt dem Berufsverband Camion Pro den gesetzlich verankerten Informationszugang zu gewähren, antwortete das BAG auf das anwaltliche Schreiben, dass es den Antrag zunächst nicht bearbeiten wird, solange nicht eine entsprechende Vollmacht des Berufsverbands vorgelegt wird. Dass das BAG die anwaltliche Versicherung einer „ordnungsgemäßen Bevollmächtigung“ in Zweifel zieht und den Anwalt zur Vorlage einer schriftlichen Vollmachtsurkunde auffordert, widerspricht der langjährigen Rechtskultur in Deutschland ist für Camion-Pro-Vorstand Mossyrsch ein ungeheuerlicher Vorgang. „Das BAG will hier ganz offensichtlich auf Zeit spielen. Dies wäre sicherlich nicht zu erwarten, wenn das BAG nichts zu verbergen hätte. Insider sehen darin sogar einen Beleg, dass das Bundesamt mit dem Rücken zur Wand steht und an Lösungen arbeitet, sich halbwegs sauber aus dem Schussfeld zu manövrieren.“
Zwischenzeitlich liegt dem Bundesamt die schriftliche Anwaltsvollmacht vor, so dass es aus Sicht von Camion Pro keinen Grund mehr gibt, warum sich das Auskunftsverfahren weiter verzögern sollte. Andreas Mossyrsch ist dennoch wenig zuversichtlich: „Wir geben uns keiner Illusion hin: es ist nicht zu erwarten, dass das BAG unsere Angelegenheit zügig bearbeiten wird.“
Irritierende Berichterstattung: Rechtsbeugung im Amt?
Im Zusammenhang mit den Vorwürfen einer unrechtmäßigen Ungleichbehandlung osteuropäischer Fahrer bei der Bußgeldbemessung durch das Bundesamt für Güterverkehr hatte der freien Mitarbeiters des ETM-Verlags, Jan Bergrath berichtet, dass das BAG quasi gezwungen sei, mit pauschalen Rabatten zu arbeiten, da eine Einzelfallprüfung das zuständige Gericht überlastet würde. Wenig später hatte das BAG jedoch gegenüber der Fachzeitschrift Verkehrsrundschau die Existenz solcher Rabatte grundsätzlich bestritten. Nicht nur deshalb irritierte die Aussage sowohl Branchenteilnehmer wie auch Journalisten. Schließlich kann eine Bundesbehörde nicht – sozusagen in vorauseilendem Gehorsam – eigenmächtig rechtsstaatliche Verfahren beschneiden. Aus Bergraths Schilderungen ergeben sich darüber hinaus neue Fragen, wie etwa die, ob das Vorgehen des BAG womöglich mit dem Gericht abgesprochen sein könnte. Oder ob das BAG womöglich auf Anweisung aus dem Justiz- oder dem Verkehrsministerium eine Staatenabschlagsliste ausgearbeitet und angewendet hat.
Andreas Mossyrsch: „Sollte sich der Verdacht erhärten, dass es gerichtliche Absprachen oder Anweisungen von ‚ganz oben‘ gegeben hat, so wäre dies – auch nach Ansicht unserer Anwälte – harter Tobak. Das Ziel, die Rechtspflege vor angeblicher Überlastung zu schützen ist schließlich kein rechtmäßiges Strafzumessungskriterium. Und wenn dies sogar systematisch – und nicht nur im Einzelfall – so gehandhabt worden ist, dann handelt es sich um einen handfesten Skandal, der dann auch zu personellen Konsequenzen beim BAG führen muss.“
BAG distanziert sich von Darstellungen des ETM-Verlag
Obwohl die das BAG sonst eher zurückhaltend mit Aussagen zu seiner Arbeit ist, kommt auf eine Anfrage von Camion Pro zu den Spekulationen des ETM-Verlages, das BAG habe mit seiner Rabattliste für osteuropäische Fahrer die Gerichte entlasten wollen, prompt eine klare Aussage. In seiner E-Mail-Antwort an Camion Pro vom 31. Mai 2021 schreibt das Bundesamt: „Dies kann nicht bestätigt werden. Maßgeblich für die beim Bundesamt durchgeführten Ordnungswidrigkeitenverfahren sind die Bestimmungen des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG).“
BAG-Spitze „zerlegt“ im Verkehrsrundschau-Interview ihre eigene Argumentation.
Ende Mai gaben der Präsident des BAG Andreas Marquardt und sein Stellvertreter Christian Hoffmann der Fachzeitschrift Verkehrsrundschau gemeinsam ein Interview. Aus Sicht von Camion Pro ein Beleg dafür, dass das BAG angezählt ist und unter Zugzwang steht. Das Interview führte der stellvertretende Chefredakteur der Verkehrsrundschau Michael Cordes. Das Interview ist bei der Verkehrsrundschau als Podcast abrufbar.
Darin dementiert Hoffmann zunächst die Existenz sogenannter Rabattlisten. So antwortet Hoffmann auf die Frage „Gibt es solche Rabattlisten?“ sehr entschieden: „Es gibt keine Listen und keine Rabatte.“ Doch als Cordes nach weiteren, längeren Ausführungen noch einmal nachfragt „Also gibt es solche Listen?“ kommt von Hoffmann die überraschende Antwort: „Die Liste basiert auf Erhebungen des Statistischen Bundesamtes.“
Zusammengefasst ergeben sich aus den Erklärungen des Bundesamtes zum Rabattlistenskandal sechs, sich teils widersprechende Aussagen:
1. Es gibt keine Rabatte und Rabattlisten.
2. Die Nachlässe für Bürger einzelner Länder in den Rabattlisten stammen vom Statistischen Bundesamt.
3. „Rabatte“ gibt es nur bei Bußen gegen Fahrer, nicht gegen Unternehmer.
4. „Rabatte“ gibt es nur ab einer Bußgeldhöhe von 250 Euro.
5. Bußgelder werden durch sorgfältige Einzelfallprüfungen festgelegt.
5. Die Prüfung wird von Mitarbeitern, die offenbar im Innendienst tätig sind, durchgeführt.
==> BAG Staatenabschlage Bugeldhohe
Die entscheiden Antworten – etwa wie genau die Einzelfallprüfung aussieht, welche Unterlagen herangezogen werden und welche Rolle Rabattlisten nun tatsächlich spielen – kann auch die Verkehrsrundschau nicht wirklich klären.
Camion-Pro-Vorstand Andreas Mossyrsch fasst den aktuellen Informationsstand so zusammen: „Das Bundesamt bestreitet Rabatte und Rabattlisten und versucht, den Eindruck zu erwecken, es würden stattdessen sorgfältige Einzelfallprüfungen durchgeführt. Wie eine Liste, „die es nicht gibt“, in der Nachlässe, „die es auch nicht gibt“, vom Statistischen Bundesamt stammen sollen und was es dann mit der Liste, die Camion Pro vorgelegt hat, auf sich hat, erklärt die Bundesbehörde allerdings nicht.“
Offen bleibt auch: Wenn es keine Rabatte auf Bußgelder gibt, was wird dann in der Einzelfallprüfung überhaupt geprüft? Diese Widersprüche konnten im Interview mit der Fachzeitschrift oder durch die Camion-Pro-Anwälte bislang nicht aufgeklärt werden.
Individualprüfung nicht durchführbar
Nicht nur für Mossyrsch stellt sich zudem die Frage: „Wie will das BAG die Einkommenssituation der Fahrer individuell prüfen?“ Gehaltsabrechnungen gehören nicht zu den Unterlagen, die ein Fahrer mit sich führt. Zudem sind die Staaten in Mittel- und Osteuropa nicht gerade für ihre Kooperationsbereitschaft mit deutschen Behörden bekannt. Und, so Mossyrsch, „gefälschte Dokumente sind an der Tagesordnung“.
Wenn tatsächlich das BAG so einfach Gehaltsprüfungen im Einzelfall durchführen könnte, wie angegeben, müsste auch der Zoll in der Lage sein auf diese Daten zuzugreifen und folglich zehntausende Verfahren wegen Mindestlohnverstößen und Sozialdumping durchführen können. Genau das passiert aber nicht. Andreas Mossyrsch folgert daraus: „Dass nun gerade das BAG die ‚ermittlungstechnische Bank‘ gesprengt haben will, und hier mit ausreichender Sicherheit prüfen kann, darf wohl stark bezweifelt werden.“
Den Camion-Pro-Vorstand ärgern aber nicht nur die widersprüchlichen Erklärungsversuche des BAG, sondern auch die Konsequenz, die sich für ihn aus der Praxis einer Staatenabschlagsliste ergibt. „Wie das Bundesamt für Güterverkehr auf Anfrage bestätigte, ist dem BAG seit langem bekannt, dass Fernfahrer aus mittel- und osteuropäischen Staaten, die in Westeuropa unterwegs sind, einen großen Teil ihres Lohns als Spesen, und damit am Finanzamt und an der Sozialversicherung vorbei, ausbezahlt bekommen. Diese Fahrer kommen durch diese – illegale – Praxis auf ein ähnliches Einkommensniveau wie westeuropäische Fahrer. Wenn aber bei den Behörden bekannt ist, dass es faktisch kaum Unterschiede beim Einkommen zwischen Fahrern aus Ost und West gibt – wozu braucht es dann eine Rabattliste oder Individualprüfungen durch das Bundesamt? Müsste es dann nicht auch eine Einzelfallprüfung für jeden deutschen Fahrer geben?“
Der saubere und rechtsstaatlich einwandfreie Weg ist nach Ansicht Mossyrschs die Gleichbehandlung aller Verkehrsteilnehmer durch die Behörden. „Wer sich ungerecht behandelt fühlt, hat in einem Rechtsstaat wie Deutschland die Möglichkeit, gerichtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Recht zu sprechen ist Sache der Gerichte, und nicht einer Behörde, die offenbar schon damit überfordert ist, ihr eigenes Handeln rechtssicher zu gestalten“, so der Camion-Pro-Vorstand.